Mit Sicherheit

Sicherheit ist ein menschliches Grundbedürfnis. Doch statt es in einem umfassenden Sinne zu befriedigen, wird es politisch instrumentalisiert. Von Lea Susemichel

„Für die Deutschen spielt schon mehr das Thema Migration und Zuwanderung eine Rolle“, unterbricht der Moderator der „Welt“ die ehemalige Sea Watch-Kapitänin Carola Rackete, als diese über Umverteilung reden will. Er bringt damit auf den Punkt, was das Dilemma linker Politik bei nahezu jeder Wahl der letzten Jahrzehnte ist, bei der rechtspopulistische Parteien mit dem „Ausländerthema“ Wahlkampf machen. Denn wer stattdessen über soziale und globale Gerechtigkeit oder die Klimakrise reden möchte, handelt sich verlässlich den Vorwurf ein, die eigentlichen Probleme der Menschen zu ignorieren.
Warum das so gut funktioniert, obwohl es doch so offensichtlich ist, dass die Folgen der Klimakatastrophe und die wachsende Ungleichheit durchaus sehr reale Probleme sind, die einen gewaltigen Einfluss auf das tägliche Leben haben, erklärt sich auch dadurch, dass es dabei vermeintlich um das große Thema Sicherheit geht. Denn Sicherheit gilt, insbesondere nach 9/11, als „eine der zentralen Legitimationskategorien politischen Handelns“, wie die Politikwissenschaftlerin Anna Kern in ihrer Studie zur „Produktion von (Un-)Sicherheit“ schreibt. Das grundlegende Problem dabei ist, dass politische Diskurse über äußere und innere Sicherheit immer wieder autoritäre Politik legitimieren. Sie setzen dafür einfach ein „natürliches“ menschliches Sicherheitsbedürfnis voraus, so Kern, die sogar von einem „Sicherheitsfetisch“ spricht. Welchen Stellenwert Sicherheit haben soll, etwa durch das Abwägen zwischen Sicherheits- und Freiheitsbedürfnis, und ein Nachdenken darüber, was Menschen eigentlich brauchen, um sich sicher zu fühlen und was sie dafür aufzugeben bereit sind, ist dann nicht länger Teil gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Das Sicherheitsbedürfnis, das vorausgesetzt wird, wird dadurch erst erzeugt, argumentiert die Politikwissenschaftlerin.
Genau das passiert auch im Interview mit Carola Rackete, in dem sich der „Welt“-Journalist geradezu moralisch entrüstet zeigt über den Versuch der deutschen EU-Politikerin, auch über Menschenrechte und Verteilungsgerechtigkeit zu sprechen.

Sicherheitsfetisch. Das Interview fand nach dem Tod eines Mannheimer Polizisten statt, der Anfang Juni nach dem Angriff durch einen abgelehnten afghanischen Asylbewerber gestorben war. Die öffentliche Debatte nach dieser Tat war ein Vorgeschmack auf den politischen Diskurs nach dem Anschlag von Solingen, der sich sehr schnell von jeder sachlichen Diskussion darüber entfernt hat, wie eine wirkungsvolle Gewalt- und Terrorprävention aussehen sollte und bei der z.B. mehr Mittel für gute Sozialarbeit an Schulen und Investitionen in Deradikalisierung- und Präventionsprogramme gefordert würden. Eine Diskussion, die wir unbedingt führen sollten, denn selbstverständlich muss es entschlossene Strategien gegen Terror und islamistische Radikalisierung geben.

Doch Vertreter*innen fast aller Parteien überbieten sich seither bloß in Vorschlägen für eine Verschärfung der Asyl- und Migrationsgesetze. Wer dabei darauf hinweist, dass es die Grundlage unserer Demokratie bildet, dass Menschenrechte ausnahmslos für alle, und damit auch für straffällig gewordene Personen gelten, und es die Europäischen Menschenrechtskonvention eigentlich verbietet, jemanden in einen Staat abzuschieben, in dem er von Folter bedroht ist, geht im allgemeinen Beifall für die Abschiebungen nach Afghanistan unter, die Deutschland erstmals seit der Machtübernahme der Taliban wieder durchführt. Das entspricht wohl auch dem Wähler*innenwillen. Laut einer aktuellen Umfrage von infratest dimap sind drei von vier Deutschen (77 Prozent) der Meinung, es brauche eine grundsätzlich andere Asyl- und Flüchtlingspolitik, damit weniger Menschen zu uns kommen. Diese Stimmungslage hat allerdings viel damit zu tun, wie Sicherheit in der politischen Debatte definiert wird, nämlich immer vor allem als Schutz vor Terror und Gewalt. Häusliche Gewalt ist dabei freilich ausgenommen, es sei denn, es handelt sich um die Gewalt migrantischer Männer, die von rechts seit jeher politisch instrumentalisiert wird. Der daraus resultierende „Sicherheitsfetisch“ privatisiert das Problem zugleich. Wer Angst bekommt und es sich leisten kann, investiert in Videoüberwachung, private Panikräume oder zieht gleich in Gated Communitys.

Sicherheitsrisiko. Ein politisches Plädoyer für ein viel umfassenderes Konzept menschlicher Sicherheit, das als Kernbestand eines guten Lebens aller Menschen anzustreben ist, fehlt hingegen. Der Soziologe Zygmunt Bauman verweist etwa darauf, dass das Englische mit der Unterscheidung zwischen „security, safety und certainty“ die vielen verschiedenen Aspekte viel besser fassen kann als der deutsche Oberbegriff. Ein solches Konzept müsste dementsprechend auch Ernährungssicherheit, soziale Sicherheit, die Sicherheit einer guten Gesundheitsversorgung im Krankheitsfall, einer Wohnpolitik, die leistbare Mieten garantiert, und einer Bildungspolitik, die gleiche Bildungschancen für alle sowie den Schutz vor Femiziden und männlicher, rassistischer und queer-feindlicher Gewalt ebenso in den Blick nehmen wie den wirksamen Schutz vor verheerenden Umweltkatastrophen durch eine forcierte Bekämpfung der Klimakrise. Denn gerade die Folgen der globalen Erhitzung werden zu einem gewaltigen globalen Sicherheitsrisiko werden. Nicht nur für die Gesundheit jeder*s Einzelnen: Zwei Grad Klimaerwärmung bedeutet fünfzig Prozent mehr Hitzetote, warnt die Armutskonferenz. Schon in den letzten Jahren starben jährlich bis zu 72.000 Menschen an den Folgen von Hitzewellen – und unter den Hitzetoten waren deutlich mehr Frauen, Armutsbetroffene sind generell ungleich viel stärker betroffen. Doch auch auf geopolitischer Ebene wird die Klimakrise zu Verwerfungen ungeahnten Ausmaßes führen. Der unersättliche Ressourcenhunger der Industrienationen des globalen Nordens, deren Rohstoffverbrauch pro Kopf in etwa viermal so hoch ist wie in den Ländern des globalen Südens, lagert die ökologischen und sozialen Folgen der Klimakatastrophe genau dorthin aus. Die Folge ist, dass immer mehr Regionen unbewohnbar werden, sich Ernteausfälle mehren, Ressourcen wie Wasser knapp werden und Meeresspiegel steigen. Fluchtbewegungen werden unausweichlich und die Wahrscheinlichkeit für gewaltsame Verteilungskämpfe und Rohstoffkonflikte steigt. Die Klimakrise ist also eine entscheidende Sicherheitsfrage, das haben auch politische Entscheidungsträger*innen längst erkannt. Doch statt daraus die Notwendigkeit für eine nachhaltige Klimapolitik abzuleiten, die den gesamten Planeten im Blick hat, verlegt sich die EU-Politik auf Abschottung. Sie ist der „Versuch, einen Wohlstand, der auch auf Kosten anderer entsteht, gegen die Teilhabeansprüche ebendieser anderen zu verteidigen“, wie die Politikwissenschaftler Ulrich Brand und Markus Wissen in „Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus“ schreiben.

„Substitut für soziale Sicherheit“. Einen breiteren politischen Diskurs, der Sicherheit in dieser Komplexität behandelt, gibt es dennoch nicht. Auch nicht auf nationaler Ebene. „In der aktuellen Debatte wird innere Sicherheit zum Substitut für soziale Sicherheit“, beklagt auch die Soziologin Silke van Dyk in der Frankfurter Rundschau: „Nicht nur die Reaktionen auf den Anschlag von Solingen zeigen, dass sich inzwischen fast alle demokratischen Parteien von der AfD treiben lassen. Es ist hochgradig populistisch, wie die Frage der inneren Sicherheit alles andere verdrängt, insbesondere Menschenrechte und soziale Sicherheit“. Und sie fragt: „Hat irgendjemand am langen Wahlabend eigentlich mal die Frage aufgeworfen, wie es um die Sicherheit derjenigen bestellt ist, gegen die sich die AfD-Hetze richtet?“
Die Frage sollte dringend auch angesichts der FPÖ-Hetze im österreichischen Wahlkampf gestellt werden, die durch ihren offenen Rassismus Gewalt schürt und Radikalisierung in alle Richtungen begünstigt, also ein gravierendes Sicherheitsrisiko darstellt. Doch Herbert Kickl geht es beim Sicherheitsthema wie gewohnt um Messer und Migranten. Fragen von Sicherheit durch Verteilungsgerechtigkeit beschränken sich hingegen auf Neiddebatten und das Beispiel einer neunköpfigen syrischen Familie, die 4.600 Euro Sozialhilfe erhält (und damit unter Armutsgrenze liegt, wie die Volkshilfe aufgezeigt hat). Ein politisches Klima, das das Leben für viele Menschen sehr viel unsicherer machen wird.