Sich anderen Menschen aussetzen

Claudia Neu hat zum Zusammenhang von Einsamkeit und Ressentiment geforscht. Wer einsam ist, kann das Vertrauen in andere Menschen und demokratische Institutionen verlieren, sagt die Soziologin.
Interview: Lea Susemichel

an.schläge: Immer mehr Menschen sind von Einsamkeit betroffen, sogar unter jungen Erwachsenen ist die Anzahl der Betroffenen zuletzt stark gestiegen. Ist daran vor allem die Pandemie schuld?

Claudia Neu: Die Zeit der Pandemie war sicher eine extreme Situation. Die geforderte physische Isolation hat viele Menschen erfahren lassen, wie Einsamkeit sich anfühlt. In den ersten beiden Pandemiewellen ist das Gefühl, zumindest zeitweise einsam zu sein, deutlich in die Höhe geschossen. Vorher gaben etwa 14 Prozent aller Deutschen an, manchmal einsam zu sein, während der Pandemie lagen die Werte dann bei über vierzig Prozent. Lange ist übersehen worden, dass junge Menschen ganz besonders unter den Kontaktbeschränkungen gelitten haben. Bis heute zeigen viele Jugendliche und junge Erwachsene noch Nachwirkungen wie Depressionen und erhöhte Einsamkeitsgefühle. Auf die gesamte deutsche Bevölkerung geschaut, haben sich Einsamkeitsgefühle aber nahezu auf das vorpandemische Niveau herabreguliert.

Ist Einsamkeit politisch gemacht, ist sie also ein Effekt der neoliberalne Vereinzelung und Entsolidarisierung, die sich auch im Verlust von sozialen Beziehungen zeigt?

Ich würde auf beides mit einem kleinen „jein“ antworten. Wird ein längerer Zeitverlauf in den Blick genommen, so finden sich lediglich Beweise, dass Einsamkeit leicht zugenommen hat, wie die Einsamkeitsforscherinnen Maike Luhmann und Kolleg:innen herausgefunden haben. Das mag auch daran liegen, dass die europäischen Wohlfahrtsstaaten den Menschen eine eigene Lebensführung ermöglicht haben, die durch weniger Abhängigkeiten von Familie oder Verwandtschaft geprägt ist. Bei Arbeitslosigkeit und Krankheit tritt nun die Solidargemeinschaft ein und nicht nur das Wohlwollen der Familie. Diese Entwicklung hat auch dazu geführt, dass in den vergangenen Jahrzehnten die persönlichen Wahlfreiheiten sehr viel größer geworden sind. Es ist heute möglich, eine unglückliche Ehe zu verlassen oder sich auch im hohen Alter aktiv am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Nirgends ist man ja so einsam wie in einer unglücklichen Beziehung. Die größeren persönlichen Freiheiten werden aber von einigen Menschen auch als Verlust an Bindung und Zusammenhalt erlebt. Darüber hinaus spielen Gefühle heute in unserem Leben, aber auch der Politik, eine deutlich größere Rolle. So ist auch die Aufmerksamkeit für psychische Leiden gestiegen und Einsamkeit bedeutet für die Betroffenen großes persönliches Leid.

Sie vertreten die These, dass Einsamkeit und Ressentiment zusammenhängen und dass Einsamkeit so zu einem Nährboden für autoritäre Politik werden kann. Können Sie diesen Zusammenhang kurz erläutern?

Vorweg: Einsamkeit und Ressentiment hängen nicht unmittelbar und auch nicht ursächlich zusammen. Einsame Menschen müssen nicht auch zugleich ressentimentgeladen sein oder umgekehrt. Einsamkeit und Ressentiment sind aber starke negative Gefühle, die sich gegenseitig verstärken können. Menschen, die Ressentiments hegen, haben eine persönliche Kränkung erfahren oder eine Zurückweisung erlitten, die sie nicht auflösen können, sodass sich Gefühle der Ohnmacht und des Grolls anstauen, die erst auf einzelne Mitmenschen, dann auch auf die ganze Gesellschaft übertragen werden können.
Einsamkeit hingegen bedeutet erst einmal nur, nicht so viele soziale Kontakte zu unterhalten, wie man sich wünscht, und sich von der Gesellschaft isoliert zu fühlen und in Notlagen keine Unterstützung zu finden. Hält dieses Gefühl sehr lange an, dann können einsame Menschen dazu neigen, die Welt dunkler und unsicherer wahrzunehmen, wie Studien zeigen. Sie vertrauen dann anderen Menschen und demokratischen Institutionen weniger und fühlen sich sogar an vielen Orten unwohler als nicht-einsame Menschen. Dies kann schließlich auch in einer erhöhten Neigung gipfeln, Verschwörungsmythen zu glauben oder politische Gewalt eher zu billigen. Hier treffen sich dann Einsamkeit und Ressentiment und können sich so gegenseitig verstärken.

Vor allem in Ostdeutschland leisten rechte Organisationen oft quasi Sozialarbeit und bieten Hilfs-, aber auch Freizeitangebote und gehen so auf Stimmenfang. Sie schreiben, dass populistische und rechtsextreme Parteien Gemeinschaftsangebote machen, inwiefern?

Einsame Menschen bemühen sich darum, wieder in Kontakt mit anderen zu kommen. Nur oft gelingt das eben nicht. Menschen, die großen Groll und Hass auf andere verspüren, stoßen mit ihren Haltungen oft auf Gegenreaktionen und Ablehnung ihrer Mitmenschen, was Einsamkeit natürlich verstärkt. Es besteht also die Sehnsucht nach Kontakt und Gemeinschaft, nach Stabilisierung des eigenen Selbst. Bei einsamen Menschen kann dies sogar so weit gehen, dass sie nicht nur selbst häufiger Diskriminierung erfahren, sondern ihrerseits andere Menschen abwerten, wie die jüngste Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigen konnte (Anm.:Die sogenannten Mitte-Studien-Erhebungen zu rechtsextremen Einstellungen in der deutschen Gesellschaft). An dieser Stelle können dann populistische oder rechtsextreme Angebote einhaken und Menschen in ihrem Wunsch nach sozialer Anerkennung abholen.

Sie kommen zum Schluss, dass eine Gesellschaft, in der Einsamkeit um sich greift, auf Reformen und Veränderungen oftmals aggressiv reagiert.  Wie erklärt sich das?

Schaue ich mir an, wie schleppend die sozial-ökologische Transformation vorankommt und wie groß die Widerstände gegen jede Art von Veränderung sind, und welchen Hass sie zuweilen hervorruft, dann frage ich mich schon: Wie bringen wir es fertig, dass sich die Einsamen und Ressentimentgeladenen wieder als Teil der Gesellschaft fühlen und auch bereit sind, (Mit-)Verantwortung für unsere Zukunft zu übernehmen? Aber natürlich hat jede und jeder erst einmal das Recht darauf, einsam und grollerfüllt zu sein, ohne von politischen Interventionen „zwangsbeglückt“ zu werden. Die zusammenhaltsgefährdende Kraft von Einsamkeit und Ressentiment darf eine lebendige Demokratie aber nicht privatisieren, sondern muss darauf reagieren.

Wie sollte sie denn reagieren?

Ein wichtiger Schritt liegt sicher darin ein stärkeres Bewusstsein für die destruktiven Kräfte von Einsamkeit und Ressentiment zu schaffen. Dazu gehört nicht nur eine Enttabuisierung von Einsamkeit, damit es für Betroffene leichter wird, Hilfe anzunehmen, sondern auch die „Opfernarrative“ der Ressentimentgeladenen zu durchbrechen. Denn an der eigenen Situation sind eben nicht immer nur die anderen schuld. Wichtig erscheint es zudem, die Resilienz der Menschen zu stärken, wieder mehr Konflikte und Differenz auszuhalten. Das kann erreicht werden, wenn wir als Gesellschaft wieder mehr in der Öffentlichkeit zusammenkommen und uns anderen Menschen aussetzen. Um das zu erreichen, brauchen wir aber auch eine entschlossene Infrastrukturpolitik, die öffentliche Güter und Dienstleistungen als ein gesellschaftlichen Integrationsmotor versteht.

Sie plädieren also für starke öffentlichen Institutionen, um rechtsextreme Radikalisierung zu stoppen?

Viele Menschen haben in den vergangenen Jahren den Eindruck, dass sich ihre Lebenswelt nicht zum Besseren verändert. Das manifestiert sich sehr stark im Eindruck, dass Gesellschaft nicht mehr in der Öffentlichkeit zusammenkommt, in Teilstücke und Blasen zerfällt. Wo aber kommen Menschen zusammen und wo erleben Menschen den „Staat“ nicht nur als repressiven Apparat? Infrastrukturen und demokratische Institutionen ermöglichen Integration, der Zugang zu Gütern und Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit ermöglichen gesellschaftliche Teilhabe. Diese Institutionen sorgen für sozialen Ausgleich, leben aber auch von Konflikten. Sie sprechen uns als Bürger:innen in vielen Rollen an, die uns dazu auffordern, Demokratie mitzugestalten. Diese Aufforderung zur Mitgestaltung sollte dann aber sowohl von Politik als auch von Bürger:innen eingefordert und eingelöst werden. Schließlich geht es um die verfassungsrechtliche Pflicht demokratischer Politik, mit den Mitteln der streitbaren und wehrhaften Demokratie der Radikalisierung und Instrumentalisierung von Ressentiments durch (national-)populistische Politikerinnen und Politiker sowie (rechts-)extremistische Parteien klar entgegenzutreten. Und so den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu bewahren und die Demokratie zu verteidigen.

Claudia Neu hat eine Professur zur Soziologie ländlicher Räume an den Universitäten Göttingen und Kassel.
Im Erscheinen:
Jens Kersten | Claudia Neu | Berthold Vogel: Einsamkeit und Ressentiment, Hamburger Edition 2024

Lea Susemichel ist leitende an.schläge-Redakteurin.

Lea Susemichel

geboren und aufgewachsen in Deutschland, studierte Philosophie und Gender Studies an der Universität Wien mit Schwerpunkt feministische Sprachphilosophie. Als Autorin, Journalistin, Lehrbeauftragte und Vortragende arbeitet sie u. a. zu den Themen feministische Theorie & Bewegung, feministische Kunst & Ästhetik sowie emanzipatorische Medienpolitik. Seit 2006 ist sie leitende Redakteurin des feministischen Magazins an.schläge.
Kontakt: lea@susemichel.de