Eine Steilwand herunterstürzen

Miranda July hat einen mitreißenden Roman über die Menopause geschrieben. Und damit hoffentlich ein neues Coming-of-Age-Genre geschaffen. Von Lea Susemichel

Eine Klippe ist auf dem Cover zu sehen. Und ein Abgrund, so tief wie der, in den
die Großmutter und die Tante der Protagonistin gefallen sind, als sie alt und unansehnlich wurden. Ganz buchstäblich gefallen, denn beide sind sie aus dem Fenster gesprungen. Die eine ist vorher in einen Müllsack gestiegen, um nicht zu viel Sauerei zu hinterlassen. Sich selbst wie den Dreck behandelnd, als der sie sich als Frau jenseits des gebärfähigen Alters offenbar fühlte. Mit Mitte Vierzig wird der namenlosen Ich-Erzählerin klar, dass sie die nächste in dieser matriarchalen Linie ist. Statt zu springen, beschließt sie, ohne Mann Harris und Kind Sam mit dem Auto quer durch Amerika nach New York zu fahren. Weit kommt sie nicht, schon an der ersten Tankstelle wird sie vom Begehren nach dem jungen Mann überwältigt, der ihr die Windschutzscheibe putzt. Er jedoch scheint sich nicht für sie interessieren und ihr wird klar: „Ich hatte noch nie zuvor die Erfahrung gemacht, zu alt zu sein“. Doch von nun an würde das vorherrschende Gefühl ihres Lebens die Enttäuschung sein, fürchtet sie. „Mit Transmännern, Frauen und weniger binären Menschen war das eine andere Sache (wie immer), aber wenn meine Hetero-Geschichte irgendeine Bedeutung hatte (und plötzlich sah es sehr danach aus), dann kam das Ende jetzt ziemlich abrupt. Ich hatte das nicht kommen sehen und mein Leben nicht entsprechend gelebt. Ich war nicht ausgegangen und hatte, als ich es noch konnte, nicht all die Heterosachen getan, die ich gern tun wollte. Wie eine selbstgefällige Henne hatte ich auf meinem Nest gehockt und war mir sicher gewesen, dass alles noch unverändert wäre, wenn mir dann wieder nach Herumstolzieren zumute war.“
Es ist dieses existenzielle Entsetzen, das die Künstlerin, Filmregisseurin (zuletzt: Kajillionaire, Empfehlung!)und Autorin Miranda July zum Ausgangspunkt ihres fulminanten Menopausen-Roman macht, der wie gewohnt mit vielen skurrilen Wendungen unterhält. Und das ihre liebenswerte Protagonistin dazu bringt, ihre Reise abzubrechen und sich nur wenige Kilometer von zuhause entfernt ein schäbiges Hotelzimmer für zigtausende Dollar zum luxuriösen Liebesnest umzubauen.
Sie habe sich gefragt, warum es zwar unzählige Coming-of-age-Geschichten über die Pubertät gäbe, erzählt die Autorin im Interview in „The Daily Show“, aber keine über die Wechseljahre. July hat sie nun selbst geschrieben: eine mitreißende und sehr ehrliche Liebesgeschichte inmitten der nächsten gewaltigen Hormonumstellung im Leben. Verpackt hat sie darin sogar endokrinologisches Wissen über abstürzende Östrogenwerte im Gegensatz zum bloß sachte abfallenden Testosteronspiegel („Während ich eine Steilwand herunterstürzte, schlenderte Harris mit einem Strohhalm im Mundwinkel eine leicht abschüssige Landstraße entlang und pfiff dabei ein Liedchen“), sowie auch die Erfahrungen anderer Betroffener. Die Protagonistin (auch die Autorin, ist anzunehmen) startet dafür eine Umfrage, was denn das Positive am Leben nach der Menstruation sei. Die Antworten zeigen: Da gibt es eine ganze Menge. „Mein Körper gehört jetzt mir“ wird geradezu bejubelt und: „Ich kann jetzt wirklich ich sein. Als wäre ich neun Jahre alt und könnte tun und lassen, was ich will“.  Keine Migräne, keine Endometrioseschmerzen mehr und auch keine Angst, ungewollt schwanger zu werden. Es wird ihr berichtet, dass psychische Erkrankungen verschwänden oder sich zumindest deutlich mildern würden.
Ein „room of ones own“ ist also nicht nur das dekadente Hotelzimmer im Zentrum des Romans, das einzig und alleine fürs eigene Vergnügen erschaffen wurde. Ein Zufluchtsort und ein feministisches Versprechen ist auch Julys schönes Buch über das Ende der sogenannten Blütezeit selbst. Die Verheißung nämlich, „wie wunderbar das Leben ist, wenn man die Blüte erst mal losgelassen hat“.

Miranda July: Auf allen Vieren
Kiepenheuer & Witsch 2024, 26,50 Euro