Signalwellen

Ob neuro- oder kulturwissenschaftlich betrachtet: Erinnern ist eine hochkomplexe Angelegenheit. Um dem Strom des Vergessens im kollektiven Gedächtnis zu entgehen, braucht es gewaltige Anstrengungen. Von Lea Susemichel

Neurowissenschaftlich lässt es sich darauf herunterbrechen: Signale, die von den Nervenzellen im Hippocampus gesendet werden, entscheiden darüber, ob wir uns an etwas erinnern oder nicht. Ob eine Erfahrung oder eine neue Erkenntnis relevant genug ist, um ins Langzeitgedächtnis übertragen zu werden, darüber entscheiden die sogenannten „Sharp Wave Ripples“. Eine aktuell im Wissenschaftsmagazin „Science“ präsentierte neue Studie kommt zu dem Ergebnis, dass es die Menge dieser spitzen Signalwellen ist, die unsere Merkfähigkeit anregt. Je mehr dieser Signale von den Nervenzellen unmittelbar nach einer Erfahrung produziert werden, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass man sich später an dieses Erlebnis erinnert. Eine Erkenntnis, die die Neurowissenschaft irgendwann sogar in die nach Science-Fiction-Grusel klingende Lage versetzen soll, mittels Gehirnströmen auch auf Demenzerkrankungen und auf traumatische Erinnerungen Einfluss nehmen zu können.

Unwahrscheinliche Ausnahme. Kulturwissenschaftlich ist die Sache mit der Erinnerung komplizierter. Denn neben dem individuellen gibt es auch ein kollektives Gedächtnis. Was von diesem erinnert wird und was nicht, bestimmen keine Signalwellen im Gehirn, sondern es ist das Resultat eines komplexen gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses. Auch dieses Gedächtnis ist nicht nur fürs Erinnern zuständig, sondern ebenso fürs Vergessen, wie die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann betont, die eine ihrer zahllosen, oft gemeinsam mit ihrem Mann Jan Assmann verfassten, Publikationen zum Thema kulturelle Erinnerung auch dem Vergessen gewidmet hat. Darin macht sie auf eine grundlegende Asymmetrie aufmerksam: Das Erinnern ist die „unwahrscheinliche Ausnahme“. Die Regel hingegen ist das Vergessen, das überall lautlos und unbemerkt passiert, letzteres ist „der Normalfall in Kultur und Gesellschaft“. Von den allermeisten Leben bleibe kaum etwas übrig: „Ein Foto, eine Brosche oder ein Möbelstück, ein Sprichwort, ein Rezept, eine Anekdote, das ist – wenn es hoch kommt – alles, was bei den Enkeln oder Urenkeln noch von dem einst prall gefüllten Leben ihrer Großeltern ankommt“, schreibt Assmann in „Formen des Vergessens“.

Diese erinnerten Erbschaften verdanken sich ihr zufolge dem „kommunikativen Gedächtnis“, das Erinnerungen und familiäre Anekdoten jedoch oft nur über drei Generationen weiterträgt, bevor sie für immer verschwinden. Frauen, deren Wirkungsbereich historisch lange auf den familiären Bereich beschränkt war, sind von dieser totalen Auslöschung entsprechend häufig betroffen. Ihre Lebensleistungen gelangten nur selten ins langlebigere „kulturelle Gedächtnis“, mit dem sich Gesellschaften ihrer eigenen Geschichte versichern. Sie brauchen dafür identitätsstiftende Institutionen wie Bibliotheken, Museen, Geschichtsbücher und Archive, in denen diese kollektiven Erinnerungen gesammelt werden.
Assmann unterscheidet dabei zwischen einem aktiven (Funktionsgedächtnis) und einem bloß passiven Erinnern (Speichergedächtnis), das schnell zu einem „Verwahrensvergessen“ werden kann, wenn eine Ansammlung von Wissen bloß in den Archiven verstaubt, ohne je hervorgeholt zu werden. Daran ändern auch die ständig größer werdenden digitalen Speicherkapazitäten nichts, die eben keinen Erinnerungsboom garantieren, wie oft prognostiziert wird. Ob unsere Nachkommen nämlich tatsächlich all die abertausenden Fotos und Filmchen auch nur sichten werden, die vielerorts hinterlassen werden, scheint zumindest fraglich.

False Memories. Auch auf gesellschaftlicher Ebene braucht es für Erinnerung eine aktive Auswahl des Archivierten, die über Kanonisierung, Allgemeinbildung oder Traditionen wie Gedenktage erfolgt. Allesamt Erinnerungstechniken, die bekanntlich in höchstem Maße andro- und eurozentrisch geprägt waren und deshalb einen Großteil der Menschheitsgeschichte dem vernichtenden Vergessen anheimgestellt haben. Entsprechend bildet sich das kollektive Gedächtnis keineswegs einfach selbsttätig aus den historischen Ereignissen. Es ist vielmehr „eine kulturelle Schöpfung“, wie Jan Assmann schreibt. Die überdies häufig stark umkämpft ist, muss ergänzt werden. Auch das Vergessen kann in diesem Prozess nicht nur passiv „passieren“, sondern auch aktiv betrieben werden, etwa wenn nach politischen Systemwechseln Denkmäler gestürzt und Straßen umbenannt werden. Legendär sind etwa Stalins Retuschen, mit denen er in Ungnade gefallene ehemalige Weggefährten aus Fotos entfernen ließ.
Erinnerung entsteht also nicht einfach, sie wird konstruiert. Stalinismus light gibt es dabei auch auf individueller Ebene, denn die eigene Vergangenheit wird bis zu einem gewissen Ausmaß stets „gegenwartstauglich“ gemacht. Verfälschte Erinnerungen sind deshalb ein weit verbreitetes Phänomen, bis hin zu „False Memories“, die keinerlei Realitätsbezug mehr haben. Diese wiederum gibt es als „Mandela-Effekt“ übrigens auch in kollektiver Form (so benannt, weil sich viele Menschen daran „erinnerten“, dass Nelson Mandela bereits in der Gefangenschaft gestorben sei).
Neurowissenschaftlich belegen lässt sich auch, was die meisten von häufig gehörten Anekdoten im Familienkreis kennen dürften: Je mehr Zeit verstreicht, desto heftiger wird deren Ausschmückung, und mit jeder Neuerzählung verzerrt sich die Erinnerung weiter.

Befreiendes Vergessen. Dem Vergessen kommen dabei unterschiedliche entlastende Funktionen zu, es sorgt etwa für einen neuen „Gedächtnisrahmen“, wie Aleida Assmann Paradigmenwechsel nennt, die eine neue Form des Erinnerns ermöglichen, indem historische Deutungsmuster entsorgt werden. Das kann, etwa nach Revolutionen, bis zu einer radikalen Abkehr von allem Alten gehen.
Die positive Wirkung, die es zweifellos haben kann, sich von überkommenen Denktraditionen und indoktrinierten Ideologien zu befreien, findet auch im oft beschworenen Gegensatz zwischen Originalität und stumpfem Wiederkäuen seinen Niederschlag. In der Moderne stand Innovationsfähigkeit dem Auswendiglernen der alten „Ars memoriae“ entgegen, es brauche einen beweglichen, freien Geist, der alten Erinnerungsballast loswerden muss. Davon war auch Friedrich Nietzsche überzeugt, der ein „aktives Vergessen“ einforderte, um von der Geschichte nicht im freien Handeln der Gegenwart gehindert zu werden.
Sigmund Freud hatte bei seiner Theorie der Verdrängung vor allem die psychische Entlastungsfunktion im Sinn, vergessen bzw. verdrängt wird das, was mit Schmerz, Schuld und/oder Scham verbunden ist. Das gilt auch für Gesellschaften. Denn egal, ob es sich um das Gedächtnis eines einzelnen Menschen oder um kollektive Erinnerung geht: Meist werden vor allem die Dinge erinnert, die ins positive Selbstbild passen.

„Dämliche Bewältigungspolitik“. Genau dagegen lehnt sich Erinnerungskultur auf. „Niemals vergessen!“ bildet als Forderung das Herzstück einer Erinnerungspolitik, die das Gedenken an die eigenen Verbrechen und Verfehlungen wachhalten will. „Erinnern wird zur ethischen Pflicht“, so Aleida Assmann. Eine Pflicht, deren Notwendigkeit auf der Hand liegt. „Diese dämliche Bewältigungspolitik, die lähmt uns heute noch“, hat der Thüringer AfD-Parteichef Björn Höcke vor einigen Jahren bei einer Rede geurteilt. „Wir brauchen nichts anderes als eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad.“ Und: „Wir Deutschen sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat.“ Es ging Höcke bei seiner Brandrede natürlich um das Holocaust-Gedenken, das die erinnerungspolitischen Kämpfe in Deutschland immer wieder kulminieren lässt.
Denn der auch in Auschwitz prangende Leitsatz „Wer sich seiner Geschichte nicht erinnert, ist verurteilt, sie zu wiederholen“ gilt für die deutsche Erinnerungskultur erst, seit die 68er-Generation ihre Eltern mit den nationalsozialistischen Gräueltaten konfrontierte und so eine Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit anstieß. Davor herrschte Schweigen. Doch bereits der Historikerstreit von 1987, bei dem die Shoa mit Verweis auf den Stalinismus relativiert werden sollte, zeigte ebenso wie Martin Walsers Friedenspreisrede, in der er von einer „Instrumentalisierung von Auschwitz“ als „Moralkeule“ sprach, wie fragil der erinnerungspolitische Konsens über die demokratiepolitische Funktion des Erinnerns auch vor Höckes vermeintlichem Tabubruch immer war. Selbst von links wurde der „deutsche Erinnerungsfetisch“ kritisiert, als inhaltsleere Inszenierung, die dem grassierenden Rassismus und Antisemitismus in Deutschland nichts entgegenzusetzen, ja sogar eine gewissen Entlastungsfunktion habe. Inzwischen mehren sich auch die Stimmen, wonach es im postmigrantischen Deutschland unbedingt neue, partizipative Formen des Gedenkens brauche, die allen gerecht werden.
Im einer vom Feuilleton als „zweiten Historikerstreit“ gelabelten Auseinandersetzung wurde 2021 schließlich eine „Enttabuisierung“ des Vergleichs zwischen Shoa und Kolonialismus gefordert, bei dem sich die Deutschen von ihrer Fixierung auf den Holocaust lösen und sich auch mit ihren Kolonialverbrechen und Restitutionsfragen beschäftigen sollten.

Dialogisches Erinnern. Wie viel Zeit vergeht, bis solche gesellschaftlichen Kämpfe um adäquate Formen des kollektiven Erinnerns sich im kulturellen Gedächtnis institutionalisierten, zeigt der Umstand, dass es bis 2005 dauern sollte, bis die UN zum 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau den 27. Jänner zum internationalen Holocaust-Gedenktag erklärt hat. Damit Institutionen wie dieser Tag nicht auch dem „Verwahrensvergessen“ anheimfallen – wie Denkmäler und Straßennamen, deren Bedeutung längst niemanden mehr interessieren – müssen sie mit dialogischem Erinnern, oder vielleicht auch, wie Michael Rothberg es nennt, mit „multidirektionaler Erinnerung“ gefüllt werden, ohne dass es dabei freilich zu einer Relativierung der Shoa kommen darf. Dabei sollten einander möglichst viele Perspektiven Ergänzung und Korrektiv sein. Ein bloß monologisches Erinnern ist Aleida Assmann zufolge jedenfalls ein Kennzeichen von Totalitarismus. Und von dort ist es zur Zensur nicht weit – womöglich auch nicht zum Manipulieren von Hirnströmen.